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„Schon fünf Tage, Lucan. Wir müssen unbedingt etwas unternehmen, und zwar schnellstens.“
Lucan nickte ernst und blickte flüchtig auf das besorgte Gesicht von Dantes Stammesgefährtin Tess.
Sie war es gewesen, die Claire am Tag nach der Explosion von Dragos' Bunker bewusstlos neben Reichen im Bett gefunden hatte. Seither hatte sie die beiden sorgfältig überwacht und dafür gesorgt, dass sie es in dem Bett, das sie teilten, warm und bequem hatten. Und nach einem Mittel gesucht, um sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Aber bis jetzt hatte einfach nichts angeschlagen.
„Andreas' vampirischer Stoffwechsel ist kräftiger als Claires menschlicher“, erklärte sie. „Er kann wahrscheinlich noch ein paar Wochen oder länger ohne Nahrung überstehen, aber Claire dehydriert schnell. Wenn wir nicht irgendwie etwas Flüssigkeit in sie hineinbekommen, werden schon bald lebenswichtige Organe versagen.“
Lucan starrte auf die schlafende Frau im Bett. Ihre zierliche Gestalt war eng an Reichens Körper geschmiegt, sie hatte liebevoll die Arme um ihn geschlungen, eine beschützende, entschlossene Umarmung. Ihr Schlaf schien sich von Reichens Schlaf erheblich zu unterscheiden. Während er reglos dalag und keinerlei Reaktion zeigte, bewegten sich Claires Augen hinter den geschlossenen Lidern schnell hin und her. Hin und wieder zuckten ihre zarten Muskeln, als hielte sie nur ein kleines Nickerchen, statt für ihre Umgebung schon seit Tagen wie tot zu sein.
„Hast du wirklich alles versucht, um sie wieder wach zu bekommen?“, fragte er Tess.
„Alles, Lucan. Es ist, als ob sich ihr Körper - aber auch ihre Seele und ihr Geist - schlicht weigern würden, wieder zu Bewusstsein zu kommen. Sie will weiterschlafen, da bin ich mir sicher.“
Er schaute finster drein und betrachtete Claires Lider, die mit der Bewegung ihrer Augäpfel zuckten.
„Träumt sie schon die ganze Zeit?“
„Ja, seit ich sie gefunden habe. Ich vermute, sie benutzt ihre Gabe, um bei Andreas zu sein.“
Lucan stieß einen tiefen Seufzer aus. „Auch wenn es sie umbringt?“
„Du hast die beiden doch zusammen gesehen, oder nicht?“ Tess' Stimme war sanft, voller Mitgefühl und Ehrfurcht. „Ich glaube, ich kann diese tiefe Hingabe, diese echte, unerschütterliche Liebe nachvollziehen, die solche Opfer hervorbringt. Wenn es Dante wäre, der in diesem Bett liegt, und ich glauben würde, dass ich ihn irgendwie erreichen kann - egal wie, dann würde ich es genauso machen, egal, wie lange es dauert. Und ich weiß, wenn es Gabrielle wäre, würdest du das Gleiche für sie tun.“
Das konnte er schlecht abstreiten. Aber genauso wenig konnte er untätig dastehen und zusehen, wie Claire und Reichen dahinsiechten.
Er sah wieder Tess an und nickte knapp. „Besorg alles aus der Krankenstation, was du brauchst, um ihr Flüssigkeit zuzuführen. Ich informiere die anderen über die Lage.“
Mehrere tausend Kilometer von Boston entfernt, auf einer abgelegenen Bahnstrecke, die ins vereiste Innere von Alaska führte, lagen die zertrümmerten Überreste eines Kühlcontainers, ungeschützt und verlassen den Elementen ausgesetzt.
Er hatte die Reise aus dem Gewerbegebiet in Albany, New York, zur Verladestation hinter sich, von wo aus er mit dem Güterzug quer durchs Land westwärts befördert worden und wie geplant vor vier Tagen im Hafen von Seattle eingetroffen war. Dort hatte man ihn ohne Zwischenfälle auf einen Frachter geladen und nach Norden verschifft, wo er knapp achtzehn Stunden später seinen Zielort erreichte.
Als Dragos' Leutnant und die Gen-Eins-Wachen, die die gefährliche Fracht begleiteten, die ersten Anzeichen von Schwierigkeiten feststellten, war es längst zu spät, die folgenden Geschehnisse aufzuhalten.
Jetzt war diese gefährliche Fracht verschwunden.
Der Container war leer bis auf die brutal zerfetzten, blutüberströmten Leichen, die seinen Boden und die schneebedeckte Erde davor übersäten.
Und von den mondbeschienenen Gleisen führte eine Spur in die dicht bewaldete Wildnis dahinter, gewaltige Fußstapfen einer wilden, tödlichen Kreatur, die nicht von dieser Welt war.
Eine Kreatur, die über Wochen des Hungerns und Betäubtwerdens nur auf den rechten Augenblick gewartet hatte, Lethargie und Gefügigkeit nur vorgetäuscht hatte - bis die Gelegenheit zur Flucht gekommen war.